Die Entwicklung von Romanfiguren ist immer wieder eine Herausforderung. Ein bewährtes Hilfsmittel für die Charakterisierung von Figuren sind Archetypen: Sie liefern ein dreidimensionales Grundgerüst, das mit individuellen Zügen versehen zum Leben erwacht.
Der Begriff „Archetyp“ ist unter anderem aus der Analytischen Psychologie und der Philosophie bekannt. Stark verallgemeinert wird darunter ein „Urbild“ oder ein „idealtypisches Bild“ verstanden, das mit bestimmten Erwartungen und Vorstellungen verknüpft ist.
Archetyp Mutter
Beispielsweise Archetyp Mutter – Wikipedia schreibt dazu (von mir gekürzte Fassung): Der Mutterarchetyp (Urmutter) ist einer der wichtigsten Archetypen in Carl Gustav Jungs Analytischer Psychologie. Er steht für die verankerte Vorstellung einer gebärenden und Schutz gewährenden Frau. Er steht aber auch für ambivalente und negative Aspekte, so etwa in der Form der zerstörenden, verschlingenden Mutter. Als Erscheinungsformen nennt Jung neben der persönlichen Mutter Stief- und Schwiegermutter, Amme und Kinderfrau; hinzu kommt die Weiße Frau der Volksmythen. Auf einer höheren Ebene schlägt sich der mütterliche Archetyp in allen Formen weiblicher Gottheiten nieder.
Konkret bedeutet das: Denken wir an eine Mutter, so verbinden wir damit bestimmte Vorstellungen und Erwartungen – ganz unabhängig von unserer Kultur oder der Zeit, in der wir leben. Und das tun wir, obwohl wir wissen, wie unterschiedlich Mütter sein können. Wie verbreitet Urbilder sind, das zeigen unzählige Geschichten – Märchen, Mythen und Sagen – aus allen Kulturen und Epochen.
Einzigartige Romanfiguren
Für Romanfiguren bedeutet das: Schreiben wir über eine Mutter, so können wir darauf vertrauen, dass die LeserInnen bestimmte Erwartungen mit dieser Figur verbinden. Das können wir nutzen: Es reicht schon zu erwähnen, dass eine Figur eine Mutter oder wie eine Mutter sei – schon haben wir bestimmte Vorstellungen geweckt. Es genügen also wenige Worte, um diese Figur zu charakterisieren. Als Autorin kann ich einige der Erwartungen erfüllen und andere gezielt enttäuschen -und so für Überraschungen zu sorgen.
Ich nutze Archetypen bei der Entwicklung von Romanfiguren wie eine Art Schneiderpuppe: Das Urbild verleiht meinen Figuren menschliche Konturen. Die Kunst besteht nun darin, sich vom Vorbild zu lösen und der Figur eine individuelle Persönlichkeit zu verleihen. Das gelingt mir, indem ich meine Romanfigur nicht nur mit den Eigenschaften des Vorbilds ausstatte, sondern darüber hinaus mit ganz eigenen Zügen: Ich gebe ihr eine Vorgeschichte, charakteristische Eigenschaften, Stärken und Schwächen. Diese müssen natürlich zu den Grundzügen des Archetyps passen. Aber so kann ich der Romanfigur etwas ganz Individuelles mit auf den Weg geben, ihr eine eigene interessante Persönlichkeit verleihen. Die Grundzüge des Archetyps sind zwar noch zu erkennen, aber sie dominieren nicht das Bild. Wenn ich es außerdem schaffe, einige Erwartungen zu enttäuschen, dann erhält die Figur ihren unverwechselbaren Stempel.
Archetypische Figuren bei der Entwicklung von Romanfiguren bringen einen entscheidenden Vorteil: Die Urbilder als Figurenmodelle sind dreidimensional. In seinem Standardwerk „Dramatisches Schreiben“ fordert Lajos Egri die Dreidimensionalität von Figuren: Sie sollen ein individuelles Aussehen haben, eine charakteristische Psyche und ein soziales Umfeld. „Ohne diese drei Dimensionen zu kennen, können wir kein menschliches Wesen einschätzen“ (Lajos Egri, Dramatisches Schreiben, Autorenhaus Verlag 2011, S. 56.). Möchte ich als Autorin eine einzigartige Figur erschaffen, so muss ich bei der Figurenentwicklung alle drei Dimensionen berücksichtigen.
Holen Sie sich meine besten Tipps, um einen richtig guten Roman zu schreiben!
In meinem E-Book zeige ich Ihnen, worauf Sie achten müssen: Wie aus einer Idee eine richtig gute Idee wird, wie man interessante Figuren entwickelt und einen spannenden Handlungsverlauf.
In diesem E-Book steckt meine Erfahrung aus 30 Jahren.
Das E-Book kostet Sie keinen Cent, nur Ihre Mailadresse. Sie erhalten dann künftig meinen Newsletter, den Sie jederzeit mit einem Klick wieder abbestellen können.
Die drei Dimensionen der Archetypen
Archetypen haben zumindest in Ansätzen eine Psyche und ein soziales Umfeld – und in einigen Fällen können wir sogar erahnen, wie sie aussehen. Beispielsweise der Mentor: Von ihm oder ihr erwarten wir, dass sie reich sind an Erfahrungen und anderen raten können, was zu tun ist. Ein Mentor ist in aller Regel ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft, das in sich ruht und aus dem Wissen seines erfüllten Lebens schöpft. Entsprechend stellen wir uns unter einem archetypischen Mentor einen weisen Menschen vor in fortgeschrittenem Alter und mit grauen Haaren, der in seiner Umgebung ein gewisses Ansehen genießt.
Dieser Archetyp zwingt mich dazu, alle drei Dimensionen meiner Figur zu überdenken und Entscheidungen zu treffen: Worin entspricht meine Figur dem Archetyp und worin nicht? Um das Klischee zu vermeiden, muss ich mich vom Archetypen lösen und meine Figur mit einzigartigen Merkmalen ausstatten. Zum Beispiel Albus Dumbledore in Harry Potter: Er ist alt und grauhaarig, weise und gütig – auf den ersten Blick wirkt er wie das Klischee eines Mentors. Doch Dumbledore ist ein Kindskopf, immer wieder zu Späßen aufgelegt, und damit erhält diese Figur ihren unverwechselbaren Charakter.
Dem Klischee entkommen
Es gibt natürlich noch andere Möglichkeiten, dem Klischee zu entkommen: Wir können zum Beispiel einen Mentor erschaffen, der nicht das Beste für seinen Schützling im Auge hat. Doch dafür sollten wir unseren LeserInnen eine Erklärung liefern – und schon gibt es eine Vorgeschichte, die das Verhalten meiner Figur prägt und sie einzigartig macht.
Beispielsweise Haymitch, der Mentor aus „Die Tribute von Panem“ von Suzanne Collins. Sobald wir erfahren, dass Haymitch der Mentor von Katniss und Peeta ist, knüpfen wir gewisse Erwartungen an ihn. Doch diese Erwartungen werden bitter enttäuscht: Haymitch ist mittleren Alters, versoffen und wenig daran interessiert, die Tribute zu unterstützen. Wir erfahren auch, warum er so ist: Vor Jahren hat er in der Arena gewonnen und bis heute kämpft er mit dem Trauma, dass er so viele andere töten musste. Außerdem hat er bisher nur Schützlinge zur Arena begleitet, die nicht die geringste Chance hatten, zu gewinnen. Und schon haben wir es mit einer einzigartigen Figur zu tun, mit einer ganz eigenen Geschichte und unverwechselbarem Charakter. Im Laufe der Geschichte erfahren wir, wie Katniss und Peeta ihn dazu bewegen können, sie zu unterstützen – und schon fiebern wir mit ihnen mit und hoffen, dass Haymitch trotz allem sein Bestes gibt.
Ich schreibe auch gerade an meinem ersten Roman. Der Plot und die Figuren stehen, aber irgendwie störte mich etwas. Ich konnte nur noch nicht sagen was. Ich ahnte, dass es womöglich mit den Figuren zusammen hängt. Nach dem Lesen dieses Artikels wurde mir klar, dass ich die Figuren noch einmal umschreiben muss. Vielen Dank für die Hilfe.
Interessant! Ich merke mir diese Tipps wohl besser. Ich schreibe gerade an meinem Erstlingswerk und bin sehr verbunden für ihre Hilfe!