Storytelling ist im Marketing ein effektives Kommunikationsinstrument. Als Autorin und Journalistin interessiere ich mich natürlich besonders für die Frage: Wie (er-)finde ich gute Geschichten? Wie schaffe ich es, aus dem Wust von Daten oder kreativen Einfällen diejenigen auszuwählen, die für eine starke Geschichte taugen?
Vor kurzem besuchte ich die Masterclass für Drehbuchautoren in Stuttgart. In diesem Jahr konnte David Magee als Referent gewonnen werden. Magee schrieb das Drehbuch zum oscarprämierten Film „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“. Aus seiner Feder stammt auch das Drehbuch zu dem Film „Wenn Träume fliegen lernen“, der die Entstehungsgeschichte der Romanfigur Peter Pan erzählt. In der Masterclass sprach Magee darüber, wie man aus einem Roman oder einer wahren Geschichte ein Drehbuch entwickelt. Wichtigste Voraussetzung ist ein eigener Standpunkt, ein Point of View (POV). Dieser entscheidet darüber, welche Geschichte erzählt wird und welche Ereignisse für das Drehbuch ausgewählt werden.
Magee hat mich in dem bestärkt, was ich schon seit einiger Zeit denke: Ich brauche einen POV, um eine gute Geschichte erzählen zu können. Der Begriff wird in der Filmtheorie und auch in der Literaturwissenschaft verwendet. POV bedeutet so viel wie subjektiver Blinkwinkel oder Erzählperspektive. Beim Storytelling ist damit ein eigener Standpunkt gemeint, von dem aus alles betrachtet wird. Das hilft bei der Entscheidung, welche Fakten in die erzählte Geschichte Einzug halten sollen. Der POV weist den Weg durch den Dschungel an Möglichkeiten.
POV ist richtungsweisend im Storytelling
Egal ob Unternehmensgeschichte, Markengeschichte oder Produktgeschichte – Storytelling im Marketing greift häufig auf Daten und Fakten zurück. Man kann sich diese Daten als konkrete Dinge vorstellen, die symbolisch für ein bestimmtes Ereignis stehen. So zum Beispiel ein Kugelschreiber für den Moment, als der Firmengründer die Patentanmeldung für das wichtigste Produkt des Unternehmens unterschrieb. Bei einer jahrhundertealten Firmengeschichte könnte man sich all diese Symbole in einer riesigen Lagerhalle vorstellen, die über und über mit Gegenständen gefüllt ist. Doch weite Teile der Halle liegen im Dunkeln und als Autorin der Firmengeschichte erkenne ich nur die Umrisse der Gegenstände, dir mir am nächsten liegen.
Wie weiß ich nun, welche der symbolischen Gegenstände ich wählen soll, um anhand der dahinterstehenden Ereignisse die Unternehmensgeschichte zu erzählen? Der POV ist wie eine Taschenlampe, die mir hilft, meinen Weg durch das Dunkel der Firmengeschichte zu bahnen. Die Taschenlampe hebt einzelne Gegenstände aus der Dunkelheit hervor, lässt sie klar erkennen und führt mich so Schritt für Schritt bis in die Gegenwart. Ähnlich verhält sich mit rein fiktionalen Formaten: Der POV hilft mir zu entscheiden, welche der Ideen ich weiterverfolge.
Storytelling: die Firmenphilosophie
Soll beispielsweise die Firmenphilosophie in Szene gesetzt werden, so gibt diese den Standpunkt vor. Dieser POV hilft mir dabei, die „richtigen“ Ereignisse zu finden, die erzählt werden sollen. Ich wähle also aus allen kreativen Einfällen nur die aus, die zum POV, also zur Unternehmensphilosophie, passen. Doch das allein reicht nicht. Damit eine packende Geschichte entsteht, sollten die Ereignisse in kausalem Zusammenhang stehen. Das bedeutet: Ereignis 1 führt zu Ereignis 2, dieses führt zu Ereignis 3 und dieses wiederum zu Ereignis 4. Je enger der kausale Zusammenhang zwischen den einzelnen Ereignissen, desto stärker die Geschichte.
Best Case: Storytelling (fiktionales Format)
Das thailändische Telekommunikationsunternehmen TrueMove H erzählt in einem Video die rührende Geschichte einer jungen Frau und ihres Vaters. Den POV der Geschichte liefert der Claim von TrueMove H: „Giving ist the best communication“ – „Geben ist die beste Art zu kommunizieren“. Das Video wurde im September 2013 bei youtube hochgeladen und im Laufe eines Jahres mehr als 17 Millionen Mal geklickt (Storytelling für TrueMove H auf youtube).
Vorgeschichte und Auslöser für Ereignis 4
Ein kleiner Junge stiehlt Medikamente und wird erwischt. Als die Apothekerin ihn wütend verfolgt, greift der Suppenküchenbesitzer von gegenüber ein. Er fragt den Jungen, ob seine Mutter krank sei. Als dieser es bestätigt, ruft der Suppenküchenbesitzer seiner Tochter Mai zu, sie solle ihm eine Suppe bringen. Dann gibt er der Apothekerin Geld und drückt dem Jungen eine Tüte mit den Medikamenten und einer Suppe in die Hand.
30 Jahre später – Ereignis 1
Mais Vater hat einen Schlaganfall und muss ins Krankenhaus.
Ereignis 2
Nur eine Operation kann Mais Vater helfen. Da er nicht krankenversichert ist, muss Mai 792.00 Baht bezahlen, eine astronomische Summe.
Ereignis 3
Mai entschließt sich, für die Operation die Suppenküche zu verkaufen.
Ereignis 4
Doch bevor es soweit kommt, hält Mai nach einer verzweifelten Nacht im Krankenhaus und nach der Operation eine neue Rechnung in der Hand – Kosten 0 Baht. Denn der Arzt ist der Junge, dem der Suppenküchenbesitzer damals geholfen hat.
Worst Case: Storytelling (nicht-fiktionales Format)
Das US-amerikanische Unternehmen Apple zählt zu den größten Unternehmen der Welt. Es steht bis heute für Kreativität, Einfachheit und Inspiration. Der Name Apple geht zurück auf Mitgründer Steve Jobs, der nach dem Namen der Firma gefragt folgende Geschichte erzählte:
„Wir waren damals mit der Anmeldung unseres Unternehmensnamens drei Monate im Verzug, und ich drohte, das Unternehmen ‚Apple Computer‘ zu nennen, falls bis fünf Uhr niemandem ein interessanterer Name einfällt. Ich hoffte, so die Kreativität anzuheizen. Aber der Name blieb. Und deshalb heißen wir heute ‚Apple‘.“ Steve Jobs
Jobs spielt mit dieser Geschichte darauf an, dass Apple für Kreativität steht – der POV, den die erzählte Geschichte kontrastiert. Jobs hat einen scheinbar absurden Namen vorgeschlagen (Ereignis 1), um die Kreativität anzuheizen. Weil niemand einen besseren Einfall hatte und die Frist ablief (Ereignis 2), bleibt es bei Apple.
Doch es gibt eine zweite Version dieser Geschichte:
„Ich praktizierte mal wieder eine meiner Obstdiäten. Ich war gerade von der Apfelplantage zurückgekehrt. Der Name klang freundlich, schwungvoll und nicht einschüchternd. Apple nahm dem Begriff Computer die Schärfe. Zudem würden wir künftig vor Atari im Telefonbuch stehen.“ Steve Jobs
Diese zweite Version wird später von Mitgründer Steve Wozniak in seiner Autobiografie bestätigt.
(Quelle: Wikipedia – Apple)
Die erste Geschichte ist die stärkere, da sie emotionaler ist (Jobs setzt ein Ultimatum), es einen Bezug zum POV gibt (Kreativität) und einen kausalen Zusammenhang zwischen den Ereignissen. Im Vergleich dazu ist die zweite Geschichte nüchtern und beide Ereignisse (Rückkehr von der Apfelplantage und Gründung des Unternehmens) stehen in keinem kausalen Zusammenhang.
Das zeigt, wie groß die Versuchung ist, passende Geschichten zu erfinden. Doch erfundene Geschichten stehen im Widerspruch zum Bemühen eines jeden Unternehmens um Glaubwürdigkeit. Wie soll man einem Unternehmen vertrauen, das bereits bei so unwichtigen Details wie der Namensgebung nicht bei der Wahrheit bleibt. Die unterschiedlichen Versionen der Namensgebung verdeutlichen, wie gut die beiden Gründer sich ergänzten: Jobs brachte seine Phantasie ein, Wozniak seinen Realitätssinn.
Sie möchten auf dem Laufenden bleiben?
Dann abonnieren Sie meinen Newsletter. Kommt in unregelmäßigen Abständen mit Terminen und Tipps rund ums Schreiben.